2021-02-02 Zum zweiten Todestag von Elisabeth Ferrari (1955-2019).
"Wir fragen nach Hoffnung für diese Stunde." Heute jährt sich der Todestag von Elisabeth Ferrari zum zweiten Mal. Heute vor zwei Jahren war ich zu einem Beratungsauftrag in Kirgistan. Ich erinnere mich, dass ich in Elisabeths letzten Stunden in dieser Welt über sie gesprochen habe. Das Team, mit dem ich mich damals auf einem Retreat in den kirgisischen Bergen befand, bat mich, ihnen etwas zum Ursprung meiner beraterischen Haltung zu erzählen. Und ich erzählte, wie ich von Elisabeth u.a. das syntaktische Arbeiten, die Lösungsfokussierung und den Umgang mit Spannungen erlernte. Und natürlich erzählte ich, wie ich durch ihre Anregungen begann, mich für die Texte von Martin Buber zu begeistern. Nun sind zwei Jahre vergangen und ich arbeite mich weiter in kleinen Schritten durch sein umfangreiches Gesamtwerk. Heute befinde ich mich in meinem Winterquartier auf einer spanischen Insel. In meinen Koffer habe ich zwei Bücher gesteckt: "Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung" und "Hinweise - Gesammelte Essays" von Martin Buber.
Seit Beginn der Corona-Pandemie frage ich mich, was wohl Elisabeth Ferrari zu den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und Diskursen gesagt hätte. Beim Lesen des letztgenannten Buches von Martin Buber habe ich eine leichte Idee dazu bekommen. Elisabeth hätte vielleicht ein Buber-Seminar veranstaltet und mit den Teilnehmenden das Essay "Hoffnung für diese Stunde" gelesen. Ihren Fokus hätte sie dabei, wie immer, weniger auf Interpretation des Textes gelegt. Sondern ging es ihr eher darum, ein Verständnis dafür zu gewinnen, für wen Buber schreibt. Es ging ihr weniger um ein abstraktes Theorieverständnis und mehr um die eigene Verkörperung der Inhalte und deren praktischen Transfer in das eigene Alltagsleben. Sie nannte dies "mit Mut und einer Überraschungsseele einen eigenen Zugang zu den Texten finden". In diesem Sinne möchte ich das Lesen dieses Essays sehr empfehlen und veröffentliche nachfolgend einen kleinen Auszug daraus.
"Wir fragen nach Hoffnung für diese Stunde. Damit ist gesagt, dass wir Fragenden diese Stunde nicht bloß als eine der schwersten Bedrängnis empfinden, sondern auch als eine, für die es keinen Ausblick in künftige wesensverschiedene Stunden, in eine Zeit der Helle und Höhe zu geben scheint. Solch ein Ausblick ist es ja, den wir im spezifischen Sinne als Hoffnung bezeichnen. [...] Es kommt [...] im wesentlichen darauf an, dass wir die gemeinsame Not, die uns fühlbar wird, nicht in ihren äußeren Manifestationen allein, sondern in ihrem Ursprung und ihrer Tiefe erkennen. So wichtig es ist, dass wir das heutige Menschenleid gemeinsam leiden, wichtiger noch ist es, gemeinsam zu erspüren, woher es kommt; denn nur von dort, von dem Grunde her, kann uns die wahre Hoffnung auf Heilung beschert werden. Die Menschenwelt ist heute, wie zuvor, in zwei Lager aufgespalten, von denen jedes das andere als die leibhafte Falschheit und sich selber als die leibhafte Wahrheit versteht. Zwar haben oft in der Geschichte Völkergruppen und Religionsverbände einander so radikal gegenüber gestanden, dass die eine Seite die andere in deren innerster Existenz verneinte und verdammte. Jetzt aber ist es die menschliche Bevölkerung des Planeten Erde überhaupt, die sich so aufgeteilt hat, und mit einigen Ausnahmen wird allerorten diese Aufteilung als die Notwendigkeit des Daseins dieser Weltstunde angesehen. Wer sich ausnimmt, wird von beiden Seiten verdächtigt oder verlacht. Jede Seite hat das Sonnenlicht in Besitz genommen und hat die Gegenseite in Nacht getaucht, und jede Seite fordert von dir, dich zwischen Tag und Nacht zu entscheiden. [...] Trotz dem fortschreitenden Niedergang des Dialogs, der unsere Zeit kennzeichnet, und dem damit verbundenen Wachstum des universellen Misstrauens dauert das Bedürfnis des Menschen, bestätigt zu werden, fort; aber es findet zumeist keine natürliche Befriedigung mehr. [...] Der Mensch will vom Menschen bestätigt werden als der, der er ist, und echte Bestätigung gibt es nur in der Gegenseitigkeit.
Martin Buber, "Hoffnung für diese Stunde" in: Hinweise, Manesse-Verlag, 1953
2020-02-02 Abschied nehmen und sich neu verbinden – mit Elisabeth Ferrari (1955-2019).
Heute ist es genau ein Jahr her, dass meine geschätzte Lehrerin und geliebte Kollegin Elisabeth Ferrari diese Welt verlassen hat. Dieser Abschied fühlte sich auch einige Zeit an wie das „gerissene Seil“ von Mordechai von Lechowitz in der unten angefügten chassidischen Geschichte von Martin Buber. Neben der Trauer um den Verlust ist mit dem Abschied von Elisabeth auch viel Neues in mein Leben gekommen. Elisabeth hat mit der Übertragung der Systemischen Strukturaufstellungen nach SySt® auf den Business Kontext (entwickelt von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer) der Beratungswelt ein großes Vermächtnis hinterlassen. Wir alle, die wir von ihr lernen durften, mussten und müssen nach ihrem Tod in gewisser Weise einen etwas anderen Umgang damit finden. Für mich bedeutet dies vor allem eine tiefere Auseinandersetzung mit den Texten von Martin Buber und die weitere Erkundung von deren Nutzen für die Beratungsarbeit – ein Herzensthema von Elisabeth Ferrari. Dazu gehört außerdem die intensivere Verbindung mit den Menschen, die das Werk und die Haltung von Elisabeth in ihrem Sinne weiter in die Welt bringen und weiterentwickeln. Beides sind große und freudebringende Aufgaben.
Außerdem hat mir Elisabeth mit ihrem Übergang in eine andere Welt noch zwei ganz persönliche Geschenke gemacht. Nämlich einerseits eine Idee davon zu bekommen, wie man eben diesen Übergang bewusst vorbereiten, aktiv gestalten und so „geeint mit sich und der Welt“ (nach Buber) fortgehen kann. Andererseits die Erfahrung zu machen, von einem bedeutenden und geliebten Menschen Abschied zu nehmen und weiterhin mit ihm in Verbindung zu bleiben. Und in diesem Sinne geht es mir ganz wie Mordechai von Lechowitz: Sie war meine Lehrerin und wird meine Lehrerin bleiben.
Abgerissen
Einige Tage vor seinem gewaltsamen Tod schrieb Rabbi Schlomo an seinen Schüler Mordechai von Lechowitz: „Komm, dass ich dich zum Führer weihe." Sogleich begab Mordechai sich auf die Reise. Unterwegs verspürte er urplötzlich, als sei ein Seil, das ihn schützend über einen Abgrund trug, gerissen, und er falle durch den uferlosen Raum. "Ich bin von meinem Lehrer abgerissen!" schrie er, und es kam fortan kein andres Wort aus seinem Mund. Seine Begleiter fuhren mit ihm zum alten Nesizer Rabbi, der im ganzen Land als Wundertäter bekannt war, und gingen diesem um Heilung des von Sinnen Geratenen an. "Tut ihm kund", sagte der Nesizer, "dass sein Lehrer tot ist; dann wird er genesen." Sie eröffneten es ihm mit großer Vorsicht, wie sie Furcht hegten, er möchte sich ein Leid antun. Er aber, sowie er das Wort vernahm, stand im Nu wieder unverstörten Angesichts, sprach mit starker Stimme den Segen, den man bei Todesnachricht spricht, und rief: „Er war mein Lehrer und wird mein Lehrer bleiben."
Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Manesse-Verlag, 1949
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2019-09-09 | Martin Buber, Jungpioniere und Kontextüberlagerungen
Das Gottesverständnis des jüdischen Philosophen Martin Buber gilt als weltlich durchdrungen. Für Menschen wie mich, denen das jenseitige Gottesverständnis nicht so nahe liegt, kann Bubers Verständnis die Beschäftigung mit dem, was er Gott nennt, interessant und bereichernd machen. Buber sagt: “... Gott will von Menschen nicht geglaubt, diskutiert oder verteidigt werden – er will verwirklicht werden...”[2] Aus dem Werk Martin Bubers interessieren und inspirieren mich vor allem die Aspekte, die mich bei der Weiterentwicklung meiner beraterischen Haltung voran bringen. Dazu gehört in erster Linie das “Dialogische Prinzip” aber auch seine Arbeiten zum Thema “Erziehung” und seine Ausführungen zum “Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre.”
In der DDR aufgewachsen, wurde ich nicht getauft, sondern bekleidete bereits im zarten Alter von sechs Jahren „wichtige Ämter“ als fleißiger Jungpionier. Gott und die Kirche hatten ein einen schwierigen Platz in der DDR. In meiner Kindheit spielten sie keine prägende Rolle. Somit sucht sich das Wort “Gott” gerade erst durch die Beschäftigung mit Buber seinen Platz in meinem Sprachgebrauch. Und von Wittgenstein wissen wir: “Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.” [3] Mir gelingt die Annäherung an den Gottesbegriff in den Texten von Buber, indem ich anstelle von “Gott” probehalber folgende Begriffe lese: “Leben”, “Kraft”, “Ressourcen”, “Liebe”... Dieser kreative Umgang mit seinen Texten ermöglicht mir dann auch, die Texte in der Arbeit mit Kund*innen im Business-Kontext zu nutzen.
Die Arbeit Martin Bubers ist eine von vielen Quellen der Systemischen Strukturaufstellungen (SySt®) des Münchener SySt-Instituts von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer. Elisabeth Ferrari hat die SySt® für den Einsatz in der alltäglichen beraterischen Arbeit im Business Kontext für mich und viele andere Berater*innen sehr wertvoll weiterentwickelt. Sie war es auch, die mich als Erste in einem Strategie-Seminar mit Originalzitaten von Martin Buber berührte. Seitdem lese ich Buber mit meiner “SySt-Brille” und entdecke immer wieder wunderbare Analogien.
So steckt in den folgenden drei Zitaten viel SySt, wenn wir das Wort “Gott” als das Wort “Ressourcen” lesen und die Frage des “Einlassens” als Zugang zu unseren Ressourcen verstehen. Und wenn wir beim “Ort”, “wo man wirklich steht” im Sinne der Aufstellungen einen guten Platz (z.B. für den Focus) verstehen, der frei von nicht nützlichen Kontextüberlagerungen ist:
„Rabbi Mendel von Kozk überraschte ein einige gelehrte Männer, die bei ihm zu Gast waren, mit der Frage: “Wo wohnt Gott?”. Sie lachten über ihn: “Wie redet Ihr! Ist doch die Welt seiner Herrlichkeit voll!” Er aber beantwortete die eigene Frage: “Gott wohnt, wo man ihn einlässt.”[1]
Ich lese darin: Die Ressourcen, die wir brauchen, um unser Leben zu leben, sind alle da. Wir müssen ihnen nur Raum geben; sie einladen, sich in unserem Leben zu zeigen. Wir alle kennen gewisse Bereiche unseres Lebens, in denen wir zeitweise eingeschränkten oder keinen Zugang zu unseren Ressourcen haben. In der SySt-Arbeit unterstützen wir den Ressourcenzugang durch Erinnern an vergessene Ressourcen. Oder durch Aufheben von Kontextüberlagerungen - z.B. durch mehrfachen Platztausch. Dazu passt das folgende Buber-Zitat:
„Das ist es, worauf es letzten Endes ankommt: Gott einlassen. Man kann ihn aber nur einlassen, wo man steht, wo man wirklich steht, da wo man lebt, wo man ein wahres Leben lebt.“[1]
Das “wahre Leben” ist das eigene Leben - und nicht das Leben der Eltern oder das Leben der Chefin. Mit der Aufhebung von Kontextüberlagerungen helfen wir, hinderliche Formen von Loyalitätsausdruck sichtbar zu machen und aufzulösen. Und dann können wir stehen: in voller Kraft, am richtigen Ort, in unserem eigenen Leben:
„Es gibt etwas, was man an einem einzigen Ort in der Welt finden kann. Es ist ein großer Schatz, man kann ihn die Erfüllung des Daseins nennen. Und der Ort, an dem dieser Schatz zu finden ist, ist der Ort, wo man steht.“[1]
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Quellen:
1 Martin Buber, Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, 12. Aufl., Gerlingen 1996
2 Maurice Friedman, Begegnung auf dem schmalen Grat, agenda Verlag Münster, 1999
3 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Suhrkamp Verlag, 1984
2019-06-19 | Buber, Gestalt, Träume, Zeit
Als gestalt-basiert und systemisch(er) arbeitender Berater habe ich das SySt-Seminar der letzten Woche zu syntaktischer Traumarbeit ganz besonders genossen. Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer lassen in ihrer Arbeit immer wieder auf sehr wertschätzende und professionelle Art und Weise die Quellen von SySt in Erscheinung treten. Im Falle der Traum-SySt war es zum Beispiel das Gestalt-Konzept von Vordergrund, Hintergrund, offenen und geschlossenen Gestalten als syntaktische Elemente von Träumen.
Da ich selbst erleben konnte, wie die Arbeit mit Träumen in systemischen Strukturaufstellungen Ideen für Fragen aus Träumen und aus der Außenwelt hervorbringen kann, freue ich mich auf eine baldige Vertiefung. Dabei interessiert mich insbesondere die Bedeutung von Zeitkanälen in Träumen. Gibt es in Träumen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Falls ja, wie bewegen wir uns in der Traumzeit? Und wie verhält sie sich zur “Außenzeit”? Martin Buber schrieb dazu in “Nachlese” folgendes:
"In den Träumen, an die wir uns erinnern, werden manchmal Räume dazwischengeschoben, in dem Sinn, dass Dinge hier vor sich gehen und dort andere Dinge, dass sie sich aber nicht vermischen. Es gibt also sozusagen zwei Ebenen, zwei Raum-Dimensionen, die nebeneinander fortbestehen. Noch seltsamer sind die Zeiterscheinungen. Ich hatte einmal einen Traum, in dem ich zu einem Zeitpunkt vorwärtsging, und der Wind blies mir ins Gesicht. Da sagte ich zu mir selbst im Traum: „Aha, das ist die andere Zeit.“ Ich fühlte nicht nur die Richtung der Zeit, die von der Geburt zum Tod geht, sondern es war mir, als ob es noch eine andere Zeitrichtung geben, die auf mich zukam und mich traf. Beim Nachdenken darüber fiel mir ein: „Oh, mit dem Raum verhält es sich ja genauso wie mit der Zeit.“ Im Traum gibt es einen Zusammenhang von Dingen, der gänzlich verschieden ist vom Wachzustand, aber es gibt ihn.“ [1]
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Quellen:
1 Martin Buber, Nachlese, Gütersloher Verlagshaus, 1993
2018-07-31 | Martin Buber: …ohne das Böse geht es nicht
Eine Notiz aus dem Training in Systemischen Strukturaufstellungen für den Businesskontext mit Elisabeth Ferrari im September und Dezember 2018. Das folgende Zitat von Martin Buber hat mich auf diesem Training sehr bewegt. Seitdem beschäftige ich mich mit seinen Texten und lasse sie in meine Arbeit einfließen. Im Zitat habe ich das Wort "Gott" durch "Leben" ersetzt, weil es so besser in meine Sprachwelt passt:
„Die Lehre des Lebens … kann nicht verstanden werden, solange man Gut und Böse, wie üblich, als zwei einander polar entgegen gesetzte Mächte oder Richtungen auffaßt. Ihr Sinn erschließt sich uns erst, wenn wir sie als wesensungleich erkennen, den >bösen Trieb< als die Leidenschaft, als die dem Menschen eigentümliche Kraft also, ohne die er weder erzeugen noch hervorbringen kann, die aber, sich selber überlassen, richtungslos bleibt und in die Irre führt, und den >guten Trieb<, als die eine Richtung, das heißt als die eine unbedingte Richtung auf … [das Leben] zu. Die beiden Triebe einen, das will sagen: die richtungslose Potenz der Leidenschaft mit der einen Richtung versehen, die sie zur großen Liebe … tauglich macht. So und nicht anders kann der Mensch ganz werden.“
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Quelle: Martin Buber, Bilder von Gut und Böse, 1952